SG Radschläger




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Digitalisierung der Sportbünde und Vereine

Durch die Pandemie bedingt ist eine Modernisierung der digitalen und medialen Ausstattung im Breitensport erforderlich. Die Maßnahme soll die Digitalisierung des organisierten Breitensports in Nordrhein-Westfalen, der sich durch auf freiwilligen Engagement basierende Strukturen sowie dessen soziale und pädagogische Funktion auszeichnet, durch eine moderne und zeitgemäße mediale Ausstattung vorantreiben.

Dieses Projekt wird durch die Europäische Union als Teil der Reaktion der Union auf die COVID-19-Pandemie finanziert.

Tour de Transdanubie 2013

Neues von Peter L. Zinner,
dem Langstreckenfahrer der SG Radschläger

Radsport

Nach einer alles andere als optimal verlaufenen Vorbereitung mit einigen gesundheitlichen Einschränkungen bin ich nun überaus glücklich mit leichtem Anflug von Stolz vermelden zu können, daß ich vor knapp zwei Wochen, nicht in Topform befindlich, aber mit all meiner langjährigen Routine als Langstreckenfahrer, die Tour de Transdanubie, eine Randonneur-Fernfahrt über die Distanz von 1231 Kilometer mit Start im ungarischen Veszprém, als 17. von 58 gestarteten Teilnehmern in der Zeit von 77:15 Std. erfolgreich beenden konnte.

Start war am Donnerstag, den 11. Juli 2013, um 5 Uhr morgens im historischen Burgenviertel der westungarischen Stadt Veszprém, eine bereits im Mittelalter sehr bedeutende Stadt, im Laufe der Geschichte und zu Zeiten der K.u.K.-Monarchie mehr unter dem deutschen Namen Weißbrunn bekannt. Nach einer kurzen Ansprache des einladenden Veranstalters Ákos Székely-Molnár geht es mit sicherem Geleit durch eine kleine, doch gut eingespielte Motorrad-Eskorte recht beschaulich auf die ersten Kilometer, die ich Seite an Seite mit meinem alten Kumpel Helmut Gries aus Velbert verbringe, der im übrigen die gesamte Distanz von Deutschland bis hierhin in 13 Tagen mit dem Fahrrad angereist ist. Vor mir ein lauter Knall. Im Vorbeifahren erkenne ich, daß es Klaus Prüger aus dem norddeutschen Tostedt erwischt hat. Die Heftigkeit seines Reifenplatzers läßt mich felsenfest auf einen fehlerhaft eingebauten Schlauch spekulieren. Ein in diesem frühen Stadium noch hinter den Teilnehmern fahrender Wagen des Veranstalters hilft ihm bei seiner eilends vorgenommenen Reparatur. Nach etwa 10 Kilometern erhaschen wir einen schönen Blick auf den nördlichen Rand des Plattensees. Zwei Kilometer weiter wird die Neutralisation aufgehoben und ein kräftiger Rückenwind führt nun schnell dazu, daß sich das Peloton in zwei Hälften teilt. Die Italiener ganz vorne, zahlenmäßig ohnehin in der Überzahl, geben gleich kräftig Gas. Helmut ist absolut nicht gewillt dagegenzuhalten und bereits zurückgefallen, überdies vereitelt ihm seine umgehängte Tragetasche mit Brot offensichtlich eine schnellere Fahrweise. Auch ich versuche nunmehr, mich nicht unbedingt zu einem Tempo verführen zu lassen, welches mich schon gleich zu Beginn zu viel Substanz kostet, deshalb lasse auch ich abreißen und fahre schon jetzt mein eigenes Rennen, genau in der Mitte zwischen den beiden größeren Fahrerfeldern positioniert. Eine Zeitlang habe ich dann den braven Peter Wöhler aus Solingen bei mir. In dem Ort Szántód nach 61 Kilometern, laut Streckenplan müssen wir an diesem Punkt nach links Richtung Kaposvár abbiegen, verabschieden sich unsere begleitenden Motorräder, die einen sehr guten Job darin gemacht haben, fast sämtliche Kreuzungen für uns Randonneure freizuboxen, besonders die mit roten Ampeln versehenen. Als das Terrain von flach auf hügelig wechselt, fahre ich auf versprengte Fahrer auf, die aus der Spitzengruppe gefallen sind. Peter ist nach den ersten welligen Steigungen nur geringfügig hinter mir, bei meinem gelegentlichen Umschauen an übersichtlichen Stellen erkenne ich, daß er sich zwar mehr und mehr entfernt, aber taktisch clever in einer größeren Gruppe mit vielen Italienern Aufnahme gefunden hat. Zum Ende dieser recht langen ersten Etappe fahre ich auf den langstreckenerprobten, mehrmaligen PBP-Absolventen Karl Meixensberger aus Bayern und seinen talentierten Langstrecken-Lehrling Nina Burandt aus Husum auf, auch Hans-Hermann Wulff aus Hamburg zeigt sich einem kleineren Talk mit mir nicht abgeneigt. Aber wie es sich eben bei Randonnées dieser Kategorie häufiger verhält, diese kleinen, zufälligen Begegnungen beschränken sich im allgemeinen auf den Austausch von bisherigen Erfahrungen und Informationen, Anfragen und Auskünfte über gemeinsame Kameraden oder das Mitteilen humorvoller Anekdoten, dann trennt man sich wieder schiedlich friedlich und verfällt völlig unverbindlich zurück in sein ur-eigenes Tempo, welches unter anderem vom aktuellen Leistungsstand des Probanden und verfügbaren Kraftdepots bestimmt ist.

Meine erste Zwischenbilanz sagt mir, daß es für mich eigentlich besser gelaufen ist als erwartet. Die erste Kontrolle erfolgt nach 125 Kilometern in einem Hotel-Restaurant mit stattlicher Fassade in Kaposvár, einem Städtchen mit wirklich aufwendig umgestaltetem Zentrum. Mir langt eine rasch getrunkene Cola, und weiter geht's. Die Tour geht weiter südlich über einen mit Höhenmetern gespickten Ausläufer des Mecsek-Gebirges in Richtung Kroatien. Wir erreichen Pécs, eine der schönsten Städte Ungarns, gleichzeitig Bischofsitz mit St. Peter-Dom und einer fast 2000-jähriger Geschichte versehen. Für mich indessen weit wichtiger : Hier an einer alteingesessenen Konditorei ist die zweite Kontrollstation eingerichtet. Für die Köstlichkeiten der ungarischen Backkunst habe ich zur momentan herrschenden Mittagszeit ohnehin keine Verwendung, deshalb hole ich mir nur kurz einen Stempel für meine Brevetkarte und entferne mich zügig aus dieser wirklich hübschen Großstadt mit sichtlich mediterranem Flair. Bei einem eingelegten Zwischenstopp kaum eine Stunde später an einem Supermarkt werde ich auf eine breite Wolkenwand aufmerksam, die von Norden kommend langsam näher rückt. "Äschä !", meint ein junger Mann, zu mir gewandt, was vermutlich in der schwer zu interpretierenden Landessprache so etwas wie Regen oder Gewitter bedeuten kann. Ich drücke nun ein wenig aufs Tempo, da in solchen Fällen immer die Hoffnung besteht, daß es sich um ein regionales Unwetter handelt, welchem man durch zügige Fahrweise ausweichen kann. So kommt es zum Glück auch. Hinter mir liegende Fahrer sprechen hinterher von einem, allerdings sehr kleinen, kräftigen Regenschauer, der sie nach Verlassen von Pécs erwischt hat. Nachdem die Gefahr durch das Gewitter gebannt ist, werde ich nun wirklich sehr hungrig und schaue mich schnellstmöglich nach einem ruhig gelegenen Lokal zwecks Nahrungsaufnahme um. Fündig werde ich aber erst, nachdem ich Kontrolle 3 in Palkonya bei Km 226 passiert habe, einer nett eingerichteten Weinstube, die zwar allerlei Rebensaft aus eigenem Anbau, kalte Gerichte und Getränke anbieten kann, allerdings nicht von mir zu diesem Zeitpunkt eindeutig favorisierte, warme Speisen. Diese Region scheint gute Bedingungen für den Anbau von Wein zu besitzen, denn kilometerlang erstrecken sich hier diese hochtreibenden Kletterpflanzen mitsamt ihren reifenden Früchte. Der Gedanke an vollsaftige, wohlschmeckende Weintrauben bringt mich aufgrund meines leeren Magens beinahe um den Verstand, aber keine fünf Kilometer dahinter ist es endlich soweit und ich lasse es mir in einem schmucken Restaurant bei einem Nudelgericht mit Pilzen und zum Nachtisch Palatschinken vortrefflich schmecken. Auch reichlich Radler-Bier und Cola finden in mir einen dankbaren Abnehmer. Die Weiterfahrt nach angemessener Pause gehe ich dann etwas sachter an, schließlich gilt es, von der köstlichen Mahlzeit so lange wie möglich etwas zu haben.

Unterdessen habe ich natürlich von meinem Fensterplatz beobachten können, wie mich während meines Festessens viele Fahrer überholt haben. Manuel Johnen aus Berlin zum Beispiel, der in den letzten Jahren so gar keinen großen Randonneur-Brevet ausgelassen hat und bei dieser Tour aus taktischen Erwägungen stets die direkte Nähe von kampfstarken, gut funktionierenden Gruppen sucht, was sich im nachhinein auch sehr positiv auf seine Endzeit ausgewirkt hat, oder die starke Kielerin Helle Madsen, die richtig flott unterwegs ist, meistens mit dem Italiener Pierino zusammen. Da ich aber ohnehin nicht in Galaform bin, registriere ich zwar die Vorbeifahrenden, fühle mich aber in keinster Weise animiert, ihnen bei meiner Wiederaufnahme der Langstreckenfahrt schnellstmöglich zu folgen. So komme ich um Punkt 19 Uhr alleine zur 4. Kontrolle in einem Schulgebäude in der Stadt Barcs an, die in unmittelbarer Nähe zur kroatischen Grenze liegt. Da hier noch nicht einmal der im Hintergrund stehende Getränkeautomat des Hauses funktionieren will, beschränke ich meinen Aufenthalt auf nur wenige Augenblicke.

Außerdem ist inzwischen in meinem Hinterkopf der Plan gereift, bei weiterem, optimalen Verlauf am ersten Tag bis Mitternacht den Kontrollpunkt in Nagykanizsa bei Km 409 zu erreichen und dort für einige Stunden zu nächtigen, obwohl ich im Vorfeld keinen Übernachtungsplatz gebucht habe. Diese Kontrolle ist außerdem die erste von zwei Bagdrop-Stationen, eine vom Veranstalter eingerichtete Form der Gepäckmitführung. Ich würde also meinen Rucksack, den ich am Vortag in Veszprém bei der Aushändigung der Startunterlagen aufgeben habe, mit frischen Klamotten, Waschzeug, Energie-Riegeln und anderen wichtigen und vertrauten Dingen für so eine Unternehmung in Empfang nehmen können. Das beflügelt mich in ungeahnter Weise und als ich ungefähr 20 Kilometer vor dem Zielort in einem kleinen Lokal am Wegesrand einkehre, um bei einem Kurz-Stopp etwas Limonade zu mir zu nehmen und auch meine Trinkflaschen aufzufüllen, lasse ich Hans-Hermann, der hier geraume Zeit vor mir eingekehrt war, bei seinem schier aussichtslosen Kampf mit einer riesigen Pizza mit den Ausmaßen eines Laufrades, allein zurück. Die Aussicht auf ein stilles Nachtlager in Verbindung mit einer erfrischenden Dusche hat bei mir im Moment absoluten Vorrang. Ich treffe um 23 Uhr in Nagykanizsa ein, einer in Grenznähe zu Kroatien gelegenen Stadt mit 50.000 Einwohnern. Die Kontrolle soll in einer Art Jugendherberge sein. Die Übernachtung in diesem Gebäude erweist sich als vollkommen unproblematisch. Ich erhalte für einen kleinen Obulus einen Schlüssel zu einem Zimmer mit zwei fertig bezogenen Betten und hole meinen Rucksack aus einem gesonderten Raum mit all den anderen Bagdrops. Allerdings liegt mein Zimmer ganz oben im dritten Stock und allzu viele freie Zimmer scheint es auch nicht mehr zu geben. Hans-Hermann, von dem ich weiß, daß er auch nicht vorgebucht hat, hatte ich beim Abschied ganz ohne Hintergedanken noch beruhigend zugerufen, daß ich ihm garantiert kein Bett wegnehmen werde. Obwohl todmüde, tapse ich auf Socken sicherheitshalber noch einmal zu der netten Empfangsdame im Erdgeschoß, die etwas Deutsch versteht und teile ihr mit, daß im Falle eines Falles mein Zimmer noch ein frisch bezogenes Bett frei hätte. Für mein eigenes Wohl beschließe ich, im Moment das reinigende Duschen zugunsten einer Mütze Schlaf zurückzustellen. Keine 15 Minuten später, ich hatte es mir gerade in meinem Bett gemütlich gemacht, klopft es an der Tür und Hans-Hermann tritt leise herein. Wir tauschen uns kurz aus und versuchen dann gemeinsam einzupennen, aber weder er noch ich können aus uns unbekannten Gründen sehr schnell einschlafen. Sind wir von den Anforderungen dieses ersten Tages noch etwas überdreht ? Schließlich dringen wenigstens für geringe Zeit zarte Schnarchgeräusche aus der Richtung von Hans-Hermann zu mir hinüber, was mich schon extrem neidisch macht, weil ich, obwohl todmüde und in weiser Voraussicht alle koffeinhaltigen Getränke seit dem frühen Nachmittag abgesetzt habe, partout nicht in den Schlaf finden will. Das alles ist für mich noch um so unverständlicher, da ich auch schon am Vorabend zu dieser Tour, als ich mir in meiner hübschen Pension ein Zimmer mit Peter Wöhler teilte, nicht richtig schlafen konnte. Noch eine weitere Nacht ohne Schlaf, das weiß ich aus Erfahrung, und es wird am folgenden Tag sehr schwer für mich werden, ein adäquate Kilometerleistung zu erzielen. Nichts zu machen, ich kann einfach nicht schlafen. Ich tröste mich notdürftig damit, als ich mich um 2:30 Uhr aus meinem Bett in Richtung Badezimmer schleiche, daß ich zwar keinen richtigen Schlaf gehabt, aber geraume Zeit im stillen Kämmerlein "geruht" habe, was ja beinahe so viel wie Schlaf darstellt, eine Behauptung, die, wie ich ehrlich zugeben muß, schon sehr, sehr intensiv nach Selbstbetrug riecht. Als sich Hermann um 3:15 Uhr zur Weiterfahrt rüstet, bin ich schon eine halbe Ewigkeit unter einer erfrischenden Dusche gewesen, um meine restlichen Lebensgeister zu mobilisieren. Bei Abgabe meines Zimmerschlüssels treffe ich im Eingangsbereich auf den gerade eingetroffenen Karl Niedermaier aus dem schwäbischen Harburg, und im Aufbruch befindlich begegne ich draußen vor der Tür auch noch Peter Wöhler, der um 4 Uhr an dieser Kontrolle erscheint.

Noch ist es draußen dunkel, aber sehr bald kündigt sich mit einem phantastischem Sonnenaufgang stimmungsvoll ein wiederum sehr schöner, sonnenreicher Tag an. Die Strecke führt nun nord-östlich wieder in Richtung Plattensee, oder Balaton, wie der größte europäische Binnensee bekanntlich auch noch genannt wird. Der Verkehr nimmt zu, es wird auch wieder hügeliger. Die Etappe von Nagykanizsa über Keszthely nach Herend ist nicht nur 127 Km lang, sondern was die Anstiege betrifft, mit 1136 Höhenmetern auch die Königsetappe dieser Tour. Ich muß beim Klettern an den Steigungen erkennen, daß meine Form denkbar bescheiden ist, außerdem fehlt mir Kraft, das Schlafdefizit macht sich nun negativ bemerkbar. Komme nur langsam vorwärts, aber ein Langstreckenfahrer kennt solche Passagen nur zu gut. Es gilt, diese Schwächephasen so unverkrampft wie möglich zu überstehen. Manchmal erholt man sich nach einigen Stunden, manchmal benötigt man einen ganzen Tag dafür. Gelegentlich führt diese Kraftlosigkeit in Verbindung mit Schmerzen oder technischen Problemen auch zum Abbruch. Davon bin ich jedoch weit entfernt, schließlich geht es mir doch eigentlich gut. Keinerlei körperlichen Wehwehchen, kein Problem bei meinem Principia-Rad, alles im Lot bis auf diese bleierne Müdigkeit. Meine derzeitige Devise lautet also : Fahr, Junge, meinetwegen langsam, aber fahr und begrüße die Hauptsache, daß Du auch mit einer gemäßigten Fahrweise halbwegs im Spiel bleibst. Denn mit dem ersten Tag habe ich mir doch ein üppiges Zeitpolster geschaffen, wovon ich jetzt ausgiebig profitieren kann. Die Kontrollstation in Herend bei Km 536 ist ein Porzellan-Museum, wo ich von einem Pförtner meinen Eintrag in die Brevetkarte bekomme. Bis zur nächsten Kontrolle sind es nur 40 Kilometer, aber auch auf diesem Abschnitt sind reichlich Höhenmeter versammelt. Das Auffinden der Kontrollstation in Pápa verursacht zum ersten Mal etwas mehr Zeit, weil in direkter Nähe zur Hauptkirche von Pápa weitflächig Steinplatten verlegt werden und das Rechtsabbiegen damit unmöglich gemacht wird. Ein Bauarbeiter hilft mir mit Tipps zum Umfahren der Baustelle, so komme ich zwar auf die gesuchte Straße, doch da mein Augenmerk gezielt auf die eine Straßenseite gerichtet ist, ich jedoch nach Befahren der Umleitung unbeabsichtigt von der falschen Seite hereinkomme, fahre ich zwei- bis dreimal an der ohnehin nicht überragend ausgeschilderten Pizzeria, die dieses Mal als Kontrollstation für uns fungieren soll, vorbei. Die im Hinterhof stattfindende Bewirtung erstickt jedoch den geringen Ärger gleich im Keim, denn es gibt reichlich leckere Pasta. Eine noch gegenwärtig hier sitzende, größere Gruppe von etwa zehn italienischen Teilnehmern wußte diesen Umstand bereits entsprechend zu würdigen. Obendrein bietet mir der Chef bei meinem Erscheinen sofort einen im Schatten gelegenen Liegestuhl an. Sieht man mir meine Müdigkeit so sehr an ? Ich sichere mir eine Option darauf für nach dem Essen und verspeise erst einmal Salat, Pasta und Nachtisch, bevor es für ein halbes Stündchen zum Ausruhen auf die Sonnenpritsche geht. Als ich mich davon erhebe, sind Karl und Nina auch schon da und haben sich ebenfalls ansehnliche Portionen zu essen bestellt. Die nächste Etappe ist mit fast 140 Km wieder einmal außergewöhnlich lang. Auf diesem Teilstück mit zum Teil bis zum Horizont reichenden Geraden liefere ich mir mit Karl und Nina ein munteres Rennen mit viertelstündlich wechselnder Führung. In der Ebene sind sie vielleicht nur ein bis zwei km/h schneller als ich, aber wenn es ein winziges Hügelchen gibt, bin ich wieder näher dran an den beiden, wo Karl mit seiner ungeheuren Erfahrung und dem Gespür für eine klug gestaltete Renn-Einteilung das Tempo vorgibt und zudem mit aussagekräftigen Gesten immer die momentan günstigste Windschattenposition für seine Novizin Nina anzeigt. Einen so vorbildlichen Helfer hätte wohl jeder gern. Diese kleinen, harmlosen Scheingefechte untereinander versüßen allen Beteiligten die Zeit und die Distanz bis zur nächsten Kontrolle. Im zweiten Teil der Etappe verspüre ich nach dem Genuß von zwei Energieriegeln plötzlich einen bemerkenswerten Energieschub, und Karl und Nina werden mündlich freundlichst eingeladen, mir in meinem Sog zu folgen, was sie erst mächtig in Erstaunen versetzt, dann aber weidlich ausgenutzt wird. In der Ortschaft mit dem nur schwerlich auszusprechenden Namen Zalaegerszeg, 35 Kilometer vor Szalafö, unserem achten Kontrollpunkt, entfernt, scheren sie schließlich aus, um sich an einem riesigen Tesco-Supermarkt mit frischen Lebensmitteln einzudecken. Die beiden haben sich frühzeitig am Etappenort eine Unterkunft für die Nacht gesichert, und ich noch nicht. Ich setze meine Fahrt nach der Trennung nun etwas betulicher fort. Die Kontrolle liegt auf der Kuppe einer längeren Anhöhe und bei Annäherung bis auf 3 Kilometer tauchen nun vor mir zwei weitere Fahrer auf, die sich nicht sicher sind, ob es auf unserem Weg wirklich immer weiter nach oben geht. Ich bestätige ihnen das durch energisches Voranfahren, denn sowohl Streckenplan, als auch Navi geben mir dabei Rückendeckung. Um 21 Uhr erreichen wir gemeinsam die Kontrollstation. Dieses Mal soll es ein Dorf-Museum sein, aber das ist bereits geschlossen und wir erhalten deshalb Stempel, Unterschrift und Uhrzeit von vier sehr schüchtern wirkenden Jugendlichen eingetragen. Wir befinden uns bei dieser Tour quasi im Dreiländereck von Ungarn, Slowenien und Österreich. Die Sonne hier im Osten Europas geht früher unter und es dunkelt jetzt schon sehr stark. Die beiden mit mir fahrenden Italiener haben offensichtlich ebenfalls im Vorfeld eine Unterkunft hier oben gebucht, ihr Glück. Mir selbst sind beim Anstieg kleine Holzhäuser aufgefallen, die wohl als Haltestellen dienen. Meine Verweildauer im ersten ist jedoch zeitlich sehr beschränkt, eine Heerschar von Mücken schlägt mich nach nur wenigen Augenblicken in die Flucht. Das zweite Häuschen macht irgendwie einen ungepflegten Eindruck, im dritten lag ich vielleicht zehn Minuten, dann raubten mir scheinbar mit unendlicher Ausdauer grundlos bellende Hunde den Nerv. Das vierte jedoch, nur weitere 500 Meter entfernt, macht das interne Rennen und ich fühle mich ohne hinderliche Konventionen persönlich angesprochen, hier meine kleine Rettungsdecke aus meinem Equipment zu ziehen und hineinzuschlüpfen, meinen Körper so gut es geht auf der doch relativ schmalen Holzbank ausstreckend. Mein kleiner Rucksack dient mir als erprobtes Kopfkissen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube fast, daß ich hier zum ersten Mal seit Tagen vorübergehend in einen kurzen Schlaf gefallen bin, wenn auch nicht für lange Zeit. Gegen 1 Uhr wache ich auf und fühle mich so weit frisch und ausgeruht, daß ich mich trotz der Dunkelheit zum gefahrlosen Weiterfahren animiert sehe. Bis zum nächsten Kontrollpunkt sind es allerdings stolze 122 Kilometer, aber vorher erwarte ich mir insgeheim eine Möglichkeit, irgendwo zu einem Frühstück einkehren zu können.

Es rollt nun ganz gut, die vor mir liegende Strecke ist mehr oder weniger flach. Auf dieser Etappe gibt es von einer schon sehr absonderlichen Begebenheit zu berichten. Ich hatte etwa gegen 3 Uhr morgens in einem kleinen Dorf, einige Meter hinter einer hell erleuchteten Kirche, angehalten, um unzivilisiert, aber notwendigerweise, etwas Flüssigkeit zu verlieren. Entweder direkt aus der Kirche oder aus der unmittelbaren Nähe schien um diese unchristliche Zeit sphärisch klingende Musik zu kommen, was mich schon sehr in Erstaunen versetzte. Nicht genug, als ich durchgebeugt die etwas zu fest sitzenden Klettverschlüsse an meinen Radschuhen lockern will, sehe ich zwischen meinen Beinen hindurch ungefähr einen Meter von mir entfernt ein Paar schwere, schwarze Schuhe, dessen Besitzer sich mir während meiner Pinkel-Aktion lautlos angenähert haben muß. Ich drehe mich um und stehe einem jungen Burschen mit kurzen blonden Haaren gegenüber, der mir angetrunken erscheint und sofort irgend etwas unverständliches in ungarischer Sprache faselt. Als ich auf Englisch mein Nichtverstehen signalisiere, schwenkt auch er auf die englische Sprache um, bezeichnet mich folgerichtig als Tourist und möchte mit mir über diese gerade zu hörende Musik reden. Was die Angelegenheit für mich so delikat und gleichzeitig nicht kalkulierbar macht, ist die Tatsache, daß dieser junge Kerl ein schwarzes T-Shirt trägt, das in großen weißen Lettern in irgendeiner bejahenden Haltung zu dem Nazi Rudolf Heß steht. Die Träger solcher Parolen sind nun wirklich die Gesellen, mit denen ich mich mitten in der Nacht ohne Zeugen in einem fremden Land über Musik oder andere Themen unterhalten möchte und ich weise daher sämtliche Gesprächsangebote freundlich, aber bestimmt, mit den kargen Worten zurück, daß ich leider keine Zeit hätte, weil ich Teil eines Radrennens sei und nun wieder umgehend weiterfahren müsse, was ich dann auch augenblicklich in die Tat umsetzte. Angst hatte ich zwar vor diesem in etwa gleichgroßen Jüngling trotz seines irgendwie phantomartigen Auftritts nicht, dazu kam die Begegnung mit ihm einfach zu überraschend, aber die Situation an sich war schon irgendwie bedrohlich und ganz nebenbei hatte ich auch überhaupt keine Lust, von einem hirnlosen Neo-Nazi als Deutscher erkannt und dafür mit recht zweifelhaftem Wohlwollen bedacht zu werden.

Die Tour geht in der Folge ohne weiteren Zwischenfälle parallel zur österreichischen Grenze an Körmend vorbei nach Szombathely, einer größeren Stadt mit rund 80.000 Einwohnern. Mein Wunsch nach einer Frühstücksmöglichkeit wird hier wahr. Ich sichte kurz nach 6 Uhr eine offene Lokalität und halte unverzüglich an. Der Laden erweist sich bei näherer Betrachtung mehr als eine Bar, aber es gibt auf jeden Fall etwas zu essen. Das für meinen Geschmack etwas zu grell geschminkte Mädchen hinter der Theke hat offensichtlich fliehende Hitze oder irgendein unbekanntes Fieber, sonst kann ich mir beileibe keinen Grund für ihre spärliche Bekleidung vorstellen. Jedenfalls bearbeitet sie die im Sekundentakt eingehenden Bestellungen eines ausgehungerten und obendrein fast verdursteten Randonneurs sehr flink, und das alleine zählt viel mehr als eine korrekte und zudem vollständige Kleider-Ordnung, denke ich mir mal und lasse diesbezüglich Nachsicht walten. Als ich so auf der Veranda dieses Etablissements stehend heiße Hot-Dogs und einige Getränke zu mir nehme, kommen Karl und Nina vorbei. Sie scheinen ausgiebig in ihrer Unterkunft geschlafen und demzufolge auch erstarkt zu sein, denn ihre Fahrweise ist viel flüssiger als die meine. Auf dem restlichen Teilstück bis zur Kontrolle in Fertöd habe ich erstaunlicherweise ganz schön viel Power auf dem Pedal, aber vom Gespann Karl und Nina ist nichts zu sehen. Stattdessen fahre ich zu meiner Überraschung auf Klaus Prüger aus Tostedt auf, den ich nach seinem kolossalen Reifenschaden gleich zu Beginn soweit vorne nicht erwartet habe. Klaus fährt im cleveren Verbund mit den beiden Bulgaren Lazar Vladislavov, Veranstalter von Sliven-Varna-Sofia und Dimitar Balanski, die ihn ins Sandwich genommen haben. Da ihre Geschwindigkeit beträchtlich unter meiner liegt, kann ich bis zur Kontrolle noch einige Minuten Vorsprung auf sie herausholen. Allerdings werde auch ich auf den letzten Kilometern von dem noch weit schnelleren Niederländer Henry Rijkenberg überholt und klassisch distanziert, der mit geschätzten 3-5 Km/h mehr auf dem Tacho unterwegs ist wie ich. Am Beispiel von Klaus merke ich daraufhin, wie sich Schlafdefizit auch auf die geistigen Fähigkeiten auswirkt. Als wir gemütlich zusammen an der Kontrolle sitzen, entfährt ihm ein "die Hälfte haben wir jetzt wohl, oder ?". Ich stutze kurz, dann antworte ich zu seiner Verwunderung : "Klaus, wir sind jetzt bei Km 836, das ist ja wohl eindeutig mehr als die Hälfte !" Klaus hat sich wegen seiner verhältnismäßig geringen Reisegeschwindigkeit bei Langstrecken die Taktik angeeignet, wenigstens 18 Stunden täglich im Sattel zu sitzen und das Schlafen auf ein Minimum zu begrenzen. Bei soviel verweigerter Erholung für den Kopf kann man schon mal leicht den Überblick verlieren. Die Kontrolle in Fertöd ist zwar eine Pizzeria, aber so früh am morgen - es ist gerade mal halb acht - bin ich noch zu keiner warmen Mahlzeit wie zum Beispiel einer Pizza fähig, schließlich heiße ich ja nicht Hans-Hermann, deshalb belasse ich es bei einigen Getränken und einem höchst ergiebigen Besuch der Toilette.

Der nächster Abschnitt ist superflach, führt in den äußersten Nordwesten Ungarns mit vielen Feuchtgebieten, also Mückenland. Störche prägen das Straßenbild in den durchfahrenen Dörfern, manche haben ihre riesigen Nester mitten im Zentrum auf gar nicht mal so hohen speziellen Masten errichtet und klappern dort mit ihren Schnäbeln lauthals um die Wette. Die Tiere sind in dieser Region also irgendwie willkommen und Teil des Dorflebens. Der unbeirrbar ruhige Landeanflug eines Storches knapp über mich hinweg macht mir die Spannweite so eines Meister Adebars von fast drei Metern erst so richtig bewußt. An dieser Stelle muß ich aber auch gezielt etwas preisgeben, wovon bislang überhaupt noch gar keine Rede war. Es sind die Straßenverhältnisse bei dieser Tour. Zu geschätzten 97 Prozent sind sie sehr gut, auch nicht anders als bei uns in Deutschland. Auf diesem Abschnitt jedoch sind sie grauenhaft schlecht und ich danke insgeheim dafür, diese Passage nicht in der Nacht durchfahren zu müssen. Ein Schlagloch neben dem anderen, manche so breit und tief wie Geigenkästen. Ich stelle mir bei meiner Fahrt durch das Chaos immer eine gedachte Linie mit möglichst geringen Fehlern in der Asphaltdecke vor, aber das ist auf Dauer ziemlich anstrengend und kleinste Fehler werden gnadenlos mit heftigsten Erschütterungen geahndet. Das Tempo spielt dabei ohnehin keine Rolle, liegt stellenweise bei 15 Km/h. Das Gute daran ist, daß in dieser Region so gut wie kein Autoverkehr stattfindet und man daher die ganze Breite der Straße für Ausweichmanöver einplanen kann. Außerdem wurden wir in seiner ausführlichen PDF-Dokumentation in überaus fürsorglicher Weise von unserem Veranstalter Ákos, den man nicht oft genug für seine umfassende, perfekte Tourenvorbereitung loben muß, auf diese Passage und alle ähnlich gelagerten Straßenverhältnisse eingehend hingewiesen.

Nach vielfältigen Eindrücken auf den letzten 80 Kilometern inklusive der Bewältigung der nervenaufreibenden Buckelpiste komme ich endlich gegen Mittag zur Kontrolle Horgony Tanya, einer urigen, volkstümlichen Fischerhütte mit angrenzendem Teich und unmittelbarer Nähe zur Donau. Hier erfahre ich eine besonders freundliche Behandlung durch den Gastwirt mit vielen Privilegien, als ich mich als Deutscher zu erkennen gebe. Da diese Kontrollstation bei Km 915 auch als zweites und letztes Bagdrop eingerichtet ist, mache ich hier wie geplant ausführlich Rast und ziehe auch eine Zwischenbilanz, mit dem berechnenden Blick nach vorn ins nur noch 316 Km entfernte Ziel gerichtet. Priorität besitzt aber zweifellos ein sofortiges, längeres Rendezvous mit einem Bad, das nach der durchgefahrenen, letzten Nacht aus meiner Sicht auch dringend vonnöten war. In einem gesonderten Raum der Kontrolle sind sämtliche zur Mitfahrt bestimmten Gepäckstücke der Teilnehmer abgelegt und ich hole mir aus meinen Rucksack Duschzeug heraus und auch Wechselklamotten. Die Dusche ist herrlich und ich trenne mich nach einer gefühlten Stunde unter permanenter Wasserberieselung nur allzu ungern von ihr, ausgiebig von der Sachlage profitierend, daß ich genügend Vorsprung herausgefahren habe und daher für längere Zeit unumschränkter Herrscher des Bades bin. Danach gibt es, obwohl von mir anfangs mit großer Skepsis aufgenommen, vom Wirt einen marinierten Fisch serviert. Nach dem ersten, zögerlichen Bissen finde ich aber großen Gefallen an dieser Speise, die leicht säuerlich schmeckt, wie Brathering. Auf meine Frage, was für eine Art Fisch denn mir gerade so köstlich mundet, antwortet der Wirt mir nur vielsagend auf Deutsch mit "Donaufisch". Aha, kenn' ich zwar nicht, ist aber auch egal. Zum Essen wird übrigens Weißbrot gereicht, wobei ich mir die Frage stelle, wie groß eigentlich der ganze Laib des Brotes sein muß, wenn schon die geviertelten, zudem fingerdick geschnittenen Brotscheiben, die Ausmaße des nicht eben klein zu nennenden Brotkorbes so deutlich sprengen. Während des Essens nimmt meine nähere Zukunftsplanung deutlichere Konturen an. Mir schwebt da für die Fahrt vom frühen Nachmittag bis in den Abend hinein bei Einhaltung einer lockeren, durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 25 Km/h eine restliche Kilometerleistung von 150 bis 200 Kilometer vor. Dann könnte ich sogar am letzten Tag bei verbleibenden 120-170 km bummeln ohne Ende und würde dennoch den Zielort in Veszprém bis Mitternacht sicher im Zeitlimit erreichen. Dabei fällt mir noch ein, daß der Veranstalter kurz vor dem Start in einer Last-Minute-Meldung die Information hat verlauten lassen, daß uns wegen der um 31 Kilometer längeren Distanz als 1200 Km vom Weltverband RM eine Bonus-Zeit von 1:30 Std. eingeräumt wird. Von dieser Regelerweiterung würde wohl ich ohne zwingenden Grund keinen Nutzen herausziehen, aber um so mehr Helmut Gries vom RSF Velbert, wie sich später erweisen wird.

Frisch gewaschen, neu eingekleidet und vortrefflich beköstigt gehe ich nun voller Tatendurst beschwingt das nächste Teilstück an, welches nur 50 Kilometer lang ist. Außerdem habe ich auf diesem Abschnitt nun eine Art Heimvorteil, da ich vor ein paar Tagen bei meiner Anreise von Düsseldorf mit dem Zug nach Ungarn in Györ einen Zwischenstopp einlegen mußte, die restliche Distanz von 120 Km bis Veszprém mit dem Rad zurücklegend, und deshalb die nicht leicht zu überschauende Durchfahrt auf vorgeschriebenen Radwegen durch die 130.000 Einwohner zählende Großstadt Györ in Richtung Balaton schon einmal einstudieren konnte, was sich jetzt ungemein positiv bemerkbar macht. Nach Verlassen der Stadtgrenze sieht man schon von weitem die majestätische Benediktiner-Abtei Martinsberg, zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörend, stolz und erhaben über der Stadt Pannonhalma thronen. Laut meinem Streckenplan soll der Stempel im Eingangsbereich dieser Burg eingeholt werden, was wohl zwingend die notwendige Erklimmung der letzten 500 Meter bis zur Kontrolle mitsamt einer 17-prozentigen Steigung beinhaltet. Oben angekommen, empfangen mich zwei Bedienstete des Klosters freundlichst und mit vielen Fragen auf den Lippen, aber ich muß nach dem heftigen Anstieg erst einmal zu Atem kommen, bevor ich antworten kann. Von Pannonhalma sind es bis zur nächsten Kontrollstation nur knapp 30 Kilometer. Fahre also zuerst mit entsprechender Vorsicht die längere Abfahrt von der Burg hinunter und lasse es jetzt zügig rollen. Im weiteren Verlauf kurz vor dem Ort Kisbér überhole ich dann eine ungarische Hochzeitsgesellschaft mit einer einzigen Kutsche, die der Verehelichten, aber um so mehr laut hupende Automobile, deren Geräuschkulisse mich schon irgendwie ein bißchen nervt. Die Kontrollstelle, ein Hotel mit angeschlossenem Restaurant, ist schon von einem größeren Haufen italienischer Randonneure in Beschlag genommen. Daß Italiener auf Langstrecken nie oder nur sehr ungern alleine unterwegs sind, ist schon seit geraumer Zeit eine quasi aktenkundige Erkenntnis von mir. Jetzt bekomme ich auch noch mit, daß sich diese Gruppe von vielleicht 8 oder 9 Fahrern auch noch eines Begleitwagens bedient. Ihr freundliches Ansinnen, mit ihnen zu fahren, lehne ich dankend ab. In den letzten Jahren hat sich in mir maßgeblich die Taktik verfestigt, mit Vorliebe allein und in meinem eigenen Rhythmus zu fahren, nur meinem eigenem Willen untergeordnet sowie total unabhängig von fremden Anliegen. Während sich die Azzurri noch zum Aufbruch sammeln, habe ich bereits längst meine Getränke intus und gleichsam bezahlt, folglich bin ich also auch vor ihnen auf der Piste. Von da an bis zum Ziel in 238 Kilometern sollte es ein stetiges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dieser Gruppierung und mir geben.

Es ist inzwischen früher Abend und ich möchte unbedingt heute noch eine weitere Teilstrecke absolvieren, die mich weiter östlich nach Esztergom bringen soll, der alten Hauptstadt, an der Donau gelegen, die vor Ort die Grenze zur Slowakei bildet. In früheren Jahren war Esztergom das kirchliche Zentrum Ungarns, daher weist die Stadt viele alte Kirchen, Kapellen und sonstige historisch wertvolle Baudenkmäler auf. Vor der Fahrt dorthin fülle ich mir aber in dem lebhaften Städtchen Tata an einem italienischen Restaurant mit Biergarten noch einmal kräftig den Magen auf und bereite mich durch Austausch der Brillengläser von getönt auf gelb und dem Anlegen meiner reflektierenden Warnweste auf die nun folgende Nachtfahrt vor. Die Anfahrt nach Esztergom ist wahrlich nicht ganz einfach. Irgendwie muß ich übersehen haben, daß es hier einen parallel führenden Radweg gibt, aber der bleibt mir leider in der nun hereinbrechenden Dunkelheit verborgen. Also fahre ich auf einer wie eine Bundesstraße ausgebauten Hauptstraße und dementsprechend stark auch von Autos frequentiert, tapfer voran, werde dabei gelegentlich nicht immer mit dem vorgeschriebenen Mindestabstand überholt. Bin froh, daß ich mit meiner Weste, die sinnvollerweise von mir so ausgesucht ist, daß sie über meinen kleinen Rucksack paßt, für andere Verkehrsteilnehmer aus größerer Distanz zu sehen sein dürfte, zumindest geht alles gut. Erst kurz vor dem Zielort entspannt sich die Lage. In Esztergom ist wohl gerade ein musikalisches Festival zu Ende gegangen, jedenfalls wird auf den Straßen von der Polizei kräftig kontrolliert. Überall sind alte Gemäuer aufwendig mit Strahlern illuminiert, so daß ich auf den letzten Metern vor der Kontrollstation, einem Hotel mit dem bedeutsamen Namen Szent Adalbert Szálloda, bei der vor Ort so mengenmäßig auftretenden Anhäufung historischer Bauten etwas den Überblick verliere. Steige vom Rad und bewege mich, da ich kein Standlicht am Rad habe, Meter für Meter tastend durch einen mit Kopfsteinpflaster bedeckten, etwa 100 Meter langen, vollständig verdunkelten Tunnelbereich. Eigentlich müßte ich ja hier auf dem richtigen Weg sein. Meine für diesen Zweck alles andere als geeigneten TIME-Schuhe, sonst sehr geschätzt, bilden mit ihren metallischen Haken unter der Sohle auch nicht gerade eine solide Grundlage mit sehr viel Haftung zum sehr unebenen, steinernen Untergrund. Als ich mir inmitten dieser stockdunklen Unterführung mit Andrehen des Vorderrads zumindest einen winzigen Blick auf die noch zu überwindende Entfernung gestatten will, reagiert wohl ein auf Lichtimpulse reagierender Sender darauf und erhellt zunehmend meine Umgebung. Jenseits des Tunnels finde ich in einem angrenzenden Gebäude einen Mann, der offensichtlich im Begriff ist, seine wertvollen Ausstellungsexponate zu sichern. Erst wirkt er irritiert, beinahe verängstigt, dann schickt er mich eine stark abschüssige Steigung hinunter, natürlich zu meiner Begeisterung auch mit diesem gräßlichen Pflaster bestückt, die reine Wohltat kreuzmüde wie ich bin so kurz vor Mitternacht. Es wäre für einen virtuellen Beobachter nicht ganz eindeutig zu erkennen, ob der Fahrer nun das Fahrrad führt oder das Rad dem ständigen Stolperer einen Halt gibt, auf jeden Fall schaffen sie es irgendwie mit vereinten Kräften unfallfrei bis zum Hotel. Dort ist der Rezeptionist mir sehr schnell mit einem Stempel gefällig und ich gehe wieder aus dem Hotel heraus. Normalerweise hätte ich jetzt ohne weiteres draußen in einem der nur noch zurechtzurückenden Stühle, die ich schon bei Betreten des Areals mit dem geschärften Blick eines Randonneurs für potentielle Schlafplätze erspäht hatte, leicht ein kleines Nickerchen einflechten können. Müde dazu war ich allemal, aber eine Heerschar von Mücken machte mir diese Hoffnung schnell zunichte. Also wieder hinein ins Hotel. Mein Wink mit der außerhalb des Hotels grassierenden Mückenplage begegnet mir der nette Herr auf eine andere Weise entgegenkommend, als ich es mir erwartet habe und versorgt mich mit großzügig aufgetragenem Insektenschutzspray auf meiner Haut. Schön und gut, aber hier war doch eigentlich viel mehr für mich drin. Mein Problem war, daß das Ambiente so piekfein war, daß ich mich einfach nicht traue, den guten Mann nach einem klitzekleinen Ort des Rückzuges zwecks Aufnahme in Morpheus Armen zu fragen. Als ich es trotzdem wage und dem vornehmen Rahmen angepaßt höflichst die Frage formuliere, ob ich vielleicht mal kurz in einem der stattlichen Besuchersessel Platz nehmen könnte, springt er vor lauter Hilfsbereitschaft abrupt aus seinem Stuhl auf und bittet mich, ihm unverzüglich in die erste Etage zu folgen. Dort zeigt er mir einen separaten Raum mit einem riesigen Sofa, welches spontan meine Gier auf sofortige Besitzergreifung weckt. Es ist zwar unheimlich heiß in diesem Raum, aber mückenfrei und zu weiteren Ansprüchen bin ich nicht mehr willens, auf der Stelle lustvoll in diesen Traum von Leder eintauchend.

Wie bei Langstreckenfahrern, die erst einen Teil ihrer Aufgabe, aber eben nicht alles bewältigt haben, wache ich nach ungefähr zwei Stunden auf und rüste mich mit routinierten Handlungen zur Weiterfahrt, dem freundlichen Mann an der Rezeption noch einmal ganz herzlich für seine Gastfreundschaft dankend. Ich fahre um 2 Uhr in die verbliebene Nacht hinein. Meine Stimmung ist nach der Mütze Schlaf supergut. Allerdings merke ich nach einiger Zeit, daß die Müdigkeit in mir noch immer so latent vorhanden ist, daß es mein Reaktions- und Denkvermögen beträchtlich vermindert. Bestes Beispiel wäre da ein Schlagloch, welches plötzlich im Licht meines kräftigen Scheinwerfers auftaucht, dem ich durch einen kleinen Schwenker elegant nach links ausweichen will. Dann registriere ich, daß meine minimale Kursänderung wohl nicht ausreichend sein wird und korrigiere noch einmal etwas mehr nach links. So komme ich doch noch herum um dieses verflixte ... , ach was, das Schlagloch hat kleine, dunkelgraue Beinchen und ist ein großer Igel, rennt vom grellen Schein meines Frontlichtes erfaßt, vor mir um sein Leben. Bevor sich der Igel womöglich mit weißen Mäusen verbrüdern kann, ist diese kleine, aber ungemein erkenntnisreiche Episode der Auslöser für eine weitere kleine Pause, die ich mir dann kurz vor Sonnenaufgang auf einer Bank mitten in einem beschaulichen Dorf genehmige. Bin die Ruhe selbst, denn mir ist nach inzwischen zurückgelegten 1130 Kilometern im Sattel klar, daß mein neuer Plan, diese Tour am selben Morgen mit einer Endzeit von 76 bis 77 Stunden zu beenden, aufgehen wird.

Die 14. und vorletzte Kontrolle, ein Hotel in Székesfehérvár, dem früheren Stuhlweißenburg, wird von mir um kurz nach sieben Uhr erreicht. In der Lobby des Hotels sind meine Rivalen aus Italien auf sämtliche Sitzmöbel verteilt. Also so richtig frisch sehen die nun wirklich nicht mehr aus, aber mache ich nach drei aufreibenden Tagen im Sattel etwa einen weit besseren Eindruck ? Streiche diese überflüssigen Gedanken, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt extrem kontraproduktiv erscheinen, da irrelevant, und zudem meine noch intakte Moral unterwandern könnten, schnellstens von der Tagesordnung und sehe zu, daß ich noch vor der schläfrigen und zutiefst angeschlagen wirkenden Bande wieder das Rennen aufnehmen kann. Nur noch lumpige 53 Kilometer liegen jetzt vor mir. Ein Klacks, wenn man ausgeschlafen und seine Kräfte alle noch beisammen hat. Das dem aber nicht so ist, zeigt sich gerade in diesen frühen Morgenstunden des gerade angebrochenen Sonntags. Ein stark aufkommender Gegenwind vereitelt mir nämlich ein zügiges Vorkommen, die kleinen, eigentlich harmlosen Steigungen, ansonsten nicht der Widmung mit Höhenmetern wert, erweisen sich als enorme Gegnerschaft auf dem Weg zu meiner 21. erfolgreichen Absolvierung einer Langstreckenfahrt über die Distanz von 1000 Km und mehr. Ab sofort trage ich Scheuklappen und bin unendlich fokussiert auf die Zieleinfahrt, zähle die Kilometer bis zum Erreichen des Ziels einzeln rückwärts herunter. Kurz vor der Stadtgrenze von Veszprém schließt ein Italiener zu mir auf. Die Vorhut der großen Gruppe ? Schade, wer läßt sich gerne nach über 1200 Kilometern so kurz vor Toresschluß die Butter vom Brot nehmen. Die Straßen hinter mir bleiben jedoch leer, von weiterer Konkurrenz nichts zu sehen. Der Italiener und ich fahren gemeinsam in die Stadt ein und wir holen uns an der Fast-Food-Kette mit dem großen, gelben M um 10:15 Uhr morgens unseren letzten Stempeleintrag. Weil von seinen Kollegen noch nichts zu sehen ist und ich sonst niemanden habe, mit dem ich auf die glückliche Heimkehr anstoßen kann, lade ich eben diesen strahlenden Italiener zu Cola und Eis ein. Der Rest seiner Gruppe trifft fünf Minuten nach uns ein und ich erfahre, daß er sich wohl auf den letzten Kilometern von seiner Truppe unerlaubt entfernt hat, was die im ersten Moment gar nicht so kameradschaftlich fanden. Einige flapsige Bemerkungen werden ausgetauscht, dann nehmen sie sich gegenseitig in den Arm und alles ist wieder gut, wie es sich nach der gemeinsamen Bewältigung einer so langen Distanz unter echten Radsportlern gehört. Für mich hat dieses gemeinsame Frühstücken bei McDonald auch noch eine gewichtige Information abgeworfen. Die italienische Gruppe bestand, was ich unterwegs gar nicht so richtig wahrgenommen hatte, nämlich nicht nur aus Italienern, sondern auch dem Bulgaren Tzanko, einem Ungarn sowie dem Israeli Tal Katzir. Und dieser Tal läßt im Ziel plötzlich die Katze aus dem Sack und tut vor allen anwesenden Finishern kund, daß im Oktober 2014 ein Brevet in Israel über die klassische Entfernung von 1200 km stattfinden wird. Wie heißt es so passend : Nach dem Rennen ist vor dem Rennen ! Schalom !

Da der letzte Kontrollstempel zwar eingetragen, aber auch die Vorschrift von seiten des Veranstalters bestand, die Brevetkarte nicht bei McD, sondern vollständig, mit den Stempeln aller Kontrollstationen und der eigenen Unterschrift versehen, im Hotel Magister abzugeben sei, mache ich mich innerlich in tiefen Glücksgefühlen schwelgend auf zur Überwindung der letzten zwei Pflichtkilometer. Von da zu meiner in unmittelbarer Nähe gelegenen Unterkunft sind es nur ein paar Meter. Mit dem Rest an Selbstkontrolle stelle ich mein Rad in den Vorhof meiner vorzüglichen Pension und werfe mich nach einem äußerst entspannenden Wannenbad mit dem allerletzten Aufgebot an Dynamik auf mein Bett. Ich glaube, wenn ich in dem Moment, wo mein Kopf auf das Kopfkissen sank, bis zehn hätte zählen sollen, wäre ich nur bis vier gekommen. So schnell klappt das Einschlafen bei mir, wenn der innerliche Druck einmal weg ist. Keine vier Stunden später werde ich durch ein heftiges Klopfen an meiner Zimmertür geweckt. Aus meinen süßesten Träumen seit Menschengedenken holt mich mein Spezi Peter Wöhler mit grausamer Entschlossenheit in die Realität zurück. Dem entflohenen Tiefschlaf noch innerlich nachtrauernd erfahre ich wie in Trance die Gründe, die letzthin zu seinem Abbruch geführt haben. Eine Achillesferse hatte sich an den Anstiegen zu Beginn entzündet, war angeschwollen und schmerzte. Hätte er die Gewißheit gehabt, daß nach Überwindung der ersten Etappen, die einen Großteil der Höhenmeter beinhalteten, sich die Entzündung zurückentwickelt, wäre er mit Sicherheit durchgefahren. So war ihm das Risiko für seine Gesundheit zu groß. Schade, lieber Peter, warum muß das Schicksal auch immer Dich treffen. Nach Peters Besuch ist es aus und vorbei mit dem Schlafgenuß, das Gehirn arbeitet nun, empfindet tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Peter und läßt mich partout nicht mehr den Weg in den so lange entbehrten Schlaf finden. Also kann ich ebensogut aufstehen und mich zum Hotel Magister aufmachen, mit der Chance dort jetzt einkehrende Finisher mit Applaus gebührend zu empfangen. Später folge ich einer Idee von Hans-Hermann und Karl, in unserem Lieblingslokal in der Innenstadt, dem "Elefant", welches die Ungarn jedoch in ihrer Sprache wie "Äläfant" aussprechen, zusammen mit den Frauen ein Abendessen und etliche Getränke auf die glückliche Absolvierung dieser Langstreckenfahrt einzunehmen. Später gesellen sich auch noch Klaus Prüger nebst Gattin Barbara und Lazar mit seiner Frau dazu. Es ist ein geselliger Abend und einiges an Anekdoten zu dieser Fahrt wird aufgetischt. Zwischenzeitlich bekomme ich am Tisch immer wieder kleinere Schübe an Sekundenschlaf, die auf mein noch lange nicht ausgeglichenes Schlafdefizit hinweisen. Um 21:45 Uhr geht es zurück in unsere Pension. Auch wenn ich noch so müde bin, noch kann ich mich nicht zurückziehen, ohne etwas von Helmut Gries in Erfahrung gebracht zu haben. Wird er es packen ? Dafür hat er noch etwas mehr als zwei Stunden Zeit. Vor dem Hotel Magister erfahre ich von zwei Liegeradfahrern aus Ungarn, die gerade gefinisht haben, daß sie vor einigen Stunden noch jemanden, auf den die Beschreibung von Helmut zutreffen könnte, in ihrem Dunstkreis gesichtet haben. Das sei allerdings schon geraume Zeit her ! Ich gehe noch einmal die zwanzig Minuten bis zur Stadtmitte vor, um Helmut an der letzten Kontrolle bei McDonalds zu empfangen. Die Fastfood-Filiale hat inzwischen ab 23 Uhr den Restaurant-Betrieb vorne eingestellt und bedient nur noch von einem auf der Rückseite befindlichen Schalter. Jetzt ist es um so wichtiger, daß ich bleibe, denn das könnte für den in Sachen McDonalds unerfahrenen Helmut zum Stolperstein werden. Aber meine tiefempfundene Solidarität mit ihm scheitert um kurz vor Mitternacht definitiv an meiner eigenen Müdigkeit, die mich in der an geeigneten Sitzplätzen mangelnden Umgebung zunehmend mürbe macht. Ich gebe offen zu, daß ich in dieser Sekunde an der rechtzeitigen Ankunft von Helmut Gries bei diesem Brevet gezweifelt habe. Um so erfreulicher, am nächsten Tag bei meinem morgendlichen Besuch auf dem Campingplatz Helmut anzutreffen und zu erfahren, daß er es tatsächlich noch in der letzten Nacht rechtzeitig geschafft hat, um viertel nach zwölf an der Kontrolle vorfahrend. Natürlich hat er das mit der Stempelvergabe an der Hintertür von McDonald nicht so recht verstanden, da lag ich also mit meiner Vermutung richtig, allerdings hat er sich danach mit einem Stempel im Hotel Magister eindecken wollen, aber die hatten keinen. Also hat er einen Zettel mit dem vorliegenden Tatbestand an seine Brevetkarte befestigt und sie dann in den großen Karton mit all den anderen Brevetkarten eingeworfen. Wir haben dann gegen Mittag den Veranstalter Ákos mit dem Handy von Peter Wöhler mit dem leidigen Vorgang konfrontiert und kurze Zeit später die Nachricht erhalten, daß die Umstände für das Fehlen des letzten Stempels in Helmuts Brevetbuch glaubhaft seien und daß er, Ákos, folglich den Zieleinlauf von Helmut innerhalb der geforderten Zeit von 91:30 Std. so akzeptiert, worauf bei Helmut offensichtlich ein Stein vom Herzen gefallen ist, obwohl er uns anderen gegenüber ganz auf cool tat.

Ein Wort noch zu meinen deutschen Mitstreitern, von denen ich einige erst hier in Ungarn kennengelernt habe. Mein ehrliche Anerkennung bei diesem denkwürdigen Brevet gilt insbesondere ... Hans-Hermann Wulff aus Hamburg vom Audax Club Schleswig-Holstein, seines Zeichens deutscher Triathlonmeister von 2008 in seiner Altersklasse, der nach verhaltenem Beginn voll durchstartete und mit gezeigter, bärenstarker Leistung nach 66,5 Stunden schon wieder im Ziel war. Nach so viel gezeigter Power erhebt sich bei einigen Beobachtern die legitim klingende Frage, ob Pizza nicht in irgendeiner Weise als Doping freizugeben sei, denn Hans-Hermann hat auf dieser Tour nicht weniger als 7 Stück davon verputzt, wie er hinterher im Beisein von vertrauenswürdigen Zeugen freimütig zugeben mußte.

Manuel Johnen aus Berlin, noch ein klein wenig früher, als 5. des Gesamtklassements, zurück im Ziel, seit vielen Jahren in der Langstreckenszene sehr umtriebig, stets zu erkennen am naturbelassenen Helm mitsamt breitestem Grinsen und längerer Haarpracht im Karl-Lagerfeld-Design. Manuel ist übrigens die ganze Strecke von Berlin nach Ungarn mit dem Rad angereist, und danach auch wieder zurück.

Stefan Langhammer, gebürtiger Thüringer, zur Zeit in der Nähe von Bremen zwecks Erwerb eines Kapitäns-Patentes niedergelassen. Er war der Schnellste im Feld und einziger Absolvent unter der magischen Grenze von 60 Stunden. Am Start noch die Bescheidenheit pur, aber im Rennen ungemein flink und effektiv, dabei sogar den italienischen Meister im Langstreckenfahren, Giorgio Murari, Künstlername Musseu, ausstechend, der allerdings auch nicht von der schnellsten Frau im Feld, Angela Perin, zu trennen war, die in der Szene seit ihren sehr guten Ergebnissen beim Ötzi oder der 1001 Miglia Italia auch keine Unbekannte mehr ist.

Karl Meixensberger, der Naturbursche aus der Nähe von Regensburg und einer der Dinosaurier im Randonneur-Bereich, wie immer mit einem Ungetüm von Rucksack auf dem breiten Kreuz. Dieses Mal ohne eigene Ambitionen, sondern höchst ehrenvoll und mit viel pädagogischen Geschick mit der Betreuung des hoffnungsvollen Nachwuchstalentes Nina Burandt von der Nordseeküste aus Husum betraut, die ihre Sache bei dieser Langstreckenfahrt schon außerordentlich gut gemacht und in dieser ansteigenden Form eine absolut sichere Kandidatin für ein sorgenfreies PBP im Jahre 2015 im Bereich von 70 Stunden sein sollte.

Karl Niedermeier aus dem mundartsprechenden Teil des Schwabenlands, dessen Idiom sich für den unqualifizierten Westdeutschen schon eindeutig nach "Bayrisch" anhört. Hatte zwar zwischenzeitlich eine kleine, glimpflich ausgegangene Kontroverse mit der Dame in der Jugendherberge in Nagykanizsa bezüglich von Papierresten, die nun mal nicht in den Abfall-Behälter für Batterien gehörten, schlug sich aber, und das zumeist allein, ganz tapfer durch dieses fremde Land, der wo keiner einen versteht.

Klaus Prüger, dem bärtigen Nordlicht aus Tostedt, dem ich anfangs mit gehörig Mißtrauen begegnete, weil er mit seiner gemütlichen Fahrweise und wenig Schlafzeit zu einem Zeitpunkt vor mir lag, als ich ihn eigentlich hinter mir wähnte, aber der durch enorme Willenskraft dieses Manko für eine gewisse Zeit immer wieder wett machen konnte, dabei die großartige Unterstützung seiner langjährigen, bulgarischen Helfershelfer in Anspruch nehmend, obwohl er ja im Prinzip immer gerne alleine fährt !

Helle Madsen aus Kiel, deren Motto für diesen Brevet wohl mit Sicherheit "Enjoy the ride" hieß, dementsprechend immer guter Stimmung war und die bei diesem Brevet eine ganz starke Vorstellung abgab und während der Fahrt sogar noch Muße zur Erweiterungen ihres Wortschatzes in ungarischer, italienischer und englischer Sprache hatte.

Helmut Gries aus Velbert, der alte Haudegen, der in respektabler Manier mit schwerem Gepäck die 1350 Km von seinem Wohnort nach Ungarn zum Startort bewältigte, dann mit der Endzeit von 91:20 Std. auch noch eine Punktlandung hinlegte und damit für sich selbst die Schmach des letzten Jahres, als er seine unter einem unglücklichen Stern stehende Fahrt bei der 1001 Miglia Italia nicht vollständig absolvieren konnte, ein für alle Mal getilgt hat. Wen wundert es eigentlich noch, daß Helmut nach lediglich zwei Ruhetagen wieder auf dem Rad Richtung Deutschland saß und erst in Passau die weitere Heimreise mit der Bahn antrat ?

Peter Wöhler aus Solingen, obwohl er diese Fahrt abbrechen mußte und mich später auch noch grobianmäßig aus meinen Finisher-Träumen vertrieb, muß ich ihm nicht nur für die Mitnahme meines Hauptgepäcks nach Veszprém danken, sondern auch dafür, daß er nach seinem eigenen Ausscheiden die Kameradschaft besessen und nicht überstürzt den Boden seiner doch wohl insgeheim sehr schmerzhaften Kapitulation verlassen, sondern für mich ( und auch Helmut Gries ) auch weiterhin der verläßliche Spediteur unserer Sachen retour nach NRW gewesen ist. Außerdem haben wir am Montag nach dem Brevet einen wirklich sehr gelungenen Nachmittag mit ihm und seiner überaus sympathischen Mutti in Veszprém verbracht, erst mit Besichtigung der Burg und seiner diversen Bauwerke, später wurden Helmut und ich gar im "Elefanten" zum Essen und ich obendrein zur Begleichung einer alten Wettschuld, dem in Winterpokal-Kreisen hinlänglich bekannten Ananas-Eisbecher, eingeladen, und zur Krönung eines schönen Tages ging es hinterher auch noch zu einem Besuch in den ortsansässigen Zoo, wo es zu netten Begegnungen auf Augenhöhe mit Nashörnern, Kamelen, Tigern und anderem Viehzeug kam, weniger zu Giraffen.

Zu dem Teilnehmer Thomas Henz kann ich leider nichts sagen, da er mir im Vorfeld gänzlich unbekannt war und diese Langstreckenfahrt aus nicht näher definierten Gründen abgebrochen hat, was ihn letztlich in der Ergebnisliste unter DNF stehen läßt.

Bin im nachhinein sehr beeindruckt von der Gastfreundschaft der ungarischen Bevölkerung, die uns Randonneuren, besonders den deutschen, so freundlich gesonnen waren, desgleichen von den fruchtbaren Landschaften mit den vielen Getreide- und Maisfeldern und umfangreichen Wein-Anbaugebieten, von der Sauberkeit und Pflege rund um die hübsch herausgeputzten Privathäuser und Innenstadtbereiche und von den mit üppiger Blumenpracht gesegneten Natur-Reservaten im Bereich des Donautals und ihrer Zuflüsse. Allerdings muß ich auch anfügen, daß es, wenn auch in nur geringem Umfang zwar, Schlaglöcher gab, die einem Radfahrer schon reichlich Geschick abverlangte, sie unfallfrei zu umfahren.

Zum wohlgemeinten Abschluß gilt es jedoch, dem Ausrichter dieser wunderbaren Tour de Transdanubie 2013, Ákos Székely-Molnár, in höchstem Umfang zu huldigen, der es mit akribischer Vorbereitung und sehr viel Fleiß geschafft hat, mit minimaler Mannschaft die umfangreiche Organisation einer 1200 Km langen Radtour für rund 60 Starter aus allen Teilen der Welt mit Bravour zu bewältigen und somit diese Fahrt für alle Teilnehmer zu einem unvergeßlichen Erlebnis gestaltet hat. Schon als ich die perfekt gestaltete Webseite der Randonneurs Hongrie Anfang des Jahres zum ersten Mal sah, hatte ich ein gutes Gefühl bei dieser Sache und meinte zu erahnen, das ein Start in diesem Teil Osteuropas bei soviel investierter Liebe zum Detail durch die für die Umsetzung verantwortliche Person kein Ausflug ins Ungewisse werden würde, auch nicht bei seiner Premierenveranstaltung. Wie man es einrichten konnte, in der durchaus bescheidenen Anmeldegebühr von 43 Euro neben der gesamten Arbeit mit Planung und Durchführung, Bagdrop-Service, Urkunde und Medaille auch noch ein sehr dekoratives, in blaßblau gehaltenes, eigenes Trikot für die Tour hineinzupacken, bleibt wohl ein Geheimnis. Ein herzliches "Köszönöm" an Ákos im Namen aller Randonneure.

Und wer sich einmal selbst von der Atmosphäre zu Beginn einer Langstreckenfahrt einfangen lassen oder spezielle Teilnehmer sondieren möchte, der sollte sich mal mit dem folgenden Link das von der Kamerafrau Renate Szauer auf dem Filmeportal Youtube veröffentlichte, knapp vierminütige Video anschauen, mit dem Inhalt der Anfangssequenz von der diesjährig zum ersten Mal stattgefundenen Tour de Transdanubie : http://www.youtube.com/watch?v=0BfvNFQosM0

Zum ersten Mal fuhr ich bei solch einer längeren Veranstaltung, zusätzlich zu meinem Kartendeck, mit der Unterstützung eines Navigationsgerätes und ich muß sagen, es ist in der Tat eine schöne Sache, wenn man nicht nur den Streckenplan in schriftlicher Form vor sich hat, sondern auch den exakt aufgespielten GPS-Track für dieselbe Strecke, weil er einem gerade in den nächtlichen Streckenabschnitten zusätzlich Sicherheit verleiht und unnötiges Verfahren vermeidet. Das macht mich zwar jetzt nicht zum unbedingten Technik-Freak, aber ich weiß seit dieser gelungenen Prüfung diese Art der erleichternden Wegfindung, wenn sie denn so funktioniert wie hier in Ungarn, eben neuerdings sehr aufrichtig zu schätzen, wo ich doch bekanntermaßen ab der Dämmerung wegen meiner latenten Kurzsichtigkeit mit erheblichen Sichteinbußen zu kämpfen habe. Das E-Werk von der Firma Busch& Müller, ein Universalnetzgerät mit der Funktion, die vom Nabendynamo erzeugte Energie für Licht und gleichzeitig Navi zu verwenden, hat durch zuverlässiges Arbeiten überzeugt. Was jedoch im Auge behalten werden sollte, ist das Aufkommen möglicher Probleme bei Steigungen in der Nacht, die im Schritt-Tempo gefahren werden müssen, weil dann die Energieversorgung mangels ausreichend eingehender Energie ständig von extern auf intern wechseln möchte und dies das Gerät durch dauernde Warntöne unterstreicht, was man durch die zeitweilige Abtrennung von der Stromquelle aber partiell unterbinden könnte.

Noch ein paar Worte zu meiner persönlichen An- und Abreise zu diesem Langstrecken-Brevet, wenn man zeitlebens ohne Führerschein und Auto so durch das Leben marschiert, nicht immer ganz einfach, ganz besonders wieder einmal in diesem Fall. Mein verständliches Ansinnen, eine preisgünstige Zugverbindung mit möglichst wenig zeitlich riskanten Umsteigepunkten zu ergattern, scheiterte permanent an der für meine Zwecke unerläßlichen Mitnahme meines Fahrrades. Es wurden mir nun in Folge nicht gerade spottbillige Angebote offeriert, die alle mit Umwegen kreuz und quer durch halb Europa das Ziel Budapest hatten, aber Budapest war ja gar nicht mein Zielort, sondern das hieß Veszprém. Letztendlich entschied ich mich für eine Verbindung, die mir zwar eine gewöhnungsbedürftige Abfahrtzeit vom Düsseldorfer Hautbahnhof um 2:47 Uhr morgens beschied und mir nach fast 18 Stunden Bahnfahren abends um kurz nach 20 Uhr noch nicht einmal das Erreichen meines Zielortes, sondern nur der noch rund 100 Kilometer von Veszprém entfernten Stadt Györ ermöglichte. Kein Problem, Hotel-Unterkünfte in Ungarn sind noch für kleines Geld zu buchen, schnell und problemlos übers Internet. Und die Überbrückung der restlichen Strecke von Györ nach Veszprém, das gestattete mir meine frühzeitige Anreise, konnte ich vor Ort spontan entscheiden. Entweder mit Rucksack auf dem Rücken per Rad oder bei schlechtem Wetter innerhalb von zwei Stunden mit einer Regionalbahn. Nur für's Protokoll, zur Ausführung kam letztendlich die Variante mit der Radtour. Ach ja, fast vergessen, die Bahn weigerte sich bei Erwerb der Fahrkarte zu Hause am Schalter beharrlich, mir ein Ticket für das Teilstück von Salzburg nach Wien zu verkaufen, das müsse ich mir per Internet besorgen, weil dieser Streckenabschnitt einer privaten Eisenbahngesellschaft unterstehen würde. Prima, so viel unnötiges Konkurrenzgehabe, nicht wahr, erinnert mich ungemein an meine ersten frühkindlichen Kämpfe im Sandkasten mit Eugen, meinen ersten Feind fürs Leben, um das rote Eimerle samt Schäufelchen. Hat die Bahn nicht irgendwann einmal ernsthaft behauptet, es gehe ihr in erster Linie nicht um Gewinn und Profit, sondern um die Zufriedenheit ihrer Kunden ?

Meine Rückreise mit dem Zug heimwärts verlief eigentlich ganz normal, wenn man mal davon absieht, daß der Zug vom Bahnhof Veszprém nach Györ gar keiner war, sondern zu meiner Überraschung ein Überlandbus, der im Prinzip keine Räder transportiert, wo mein treues Radl aber mit dem Patronat der hilfsbereiten Bahnbediensteten ohne Umbau in einem seitlichen Gepäckfach untergebracht wurde. Neben mir im Bus dann ein junger Eishockeyspieler aus den USA mit Namen David Coleman, der zur Zeit für Újpesti TE Budapest spielt und mit seinem Vater, oder älterem Freund, später in der Nähe von Zirc ausstieg, um dort zu einer längeren Wanderung aufzubrechen. In Zirc fliegender Wechsel in die Eisenbahn nach Györ, dort zwei Stunden Aufenthalt, Postkarten schreiben und umsteigen in den Zug nach Bruck/Leitha, wiederum eine Stunde bis zur Abfahrt der Bahn nach Wien-Hütteldorf. In der einstündigen Pause das Abendessen eingenommen und die in der Nähe gelegene Spielstätte des ruhmreichen, oftmaligen österreichischen Fußballmeisters Rapid Wein besucht, dann weiter mit dem Liegewagen nach Hannover. Ankunft dort um 6:13 Uhr morgens, Weiterfahrt mit dem IC eineinhalb Stunden später, und um 10:46 Uhr todmüde, aber unversehrt und glücklich endlich im heimischen Düsseldorf eingetroffen. Hatte eigentlich irgendjemand beim Lesen an einer Zeitleiste nachvollziehen können, daß ich einen Tag zuvor gegen 9:30 Uhr von meiner Pension in Richtung Bahnhof Veszprém aufgebrochen war ?

Nachtrag : Wie nahe manchmal Glück und Leid nicht nur im Leben, sondern auch im Radsport beisammen liegen, habe ich keine fünf Tage nach meiner Rückkehr erlebt, als ich mit meinem dunkelblauen Rad für die ganz großen Randonneur-Prüfungen, dem seit 11 Jahren in meinen Diensten stehenden, bislang stets zuverlässigen Principia, zu seiner ultimativ letzten Fahrt aufgebrochen bin. Völlig unvermutet traf mich dieser irreparable Schaden im Bereich der Ausfallenden mit der klaren Diagnose Rahmenbruch nach 110 Kilometern bei einer "kleinen" RTF im heimischen Düsseldorf. Nicht auszudenken, wenn mich so ein Malheur bei der erst kürzlich zurückgelegten Langstreckenfahrt in Ungarn erwischt hätte. Ich wäre vermutlich auf lange Zeit untröstlich gewesen.

Entschuldige mich vielmals, wenn ich bei meinem Bericht unter Umständen ein wenig ins Schwafeln gekommen sein sollte, diese wunderschöne Tour bot mir jedoch so prächtigen Stoff zum Erzählen, daß ich mich dem nicht verweigern konnte. Gelobe hiermit Besserung und verspreche, allerdings unverbindlich, für mindestens ein Jahr Zurückhaltung zu üben, bis sich auf meinem weiteren Weg unweigerlich neue Fahrten und Abenteuer anbahnen.

Mit freundlichem Gruß,
Peter L. Zinner, SG Radschläger Düsseldorf, Juli 2013

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